Begegnungen auf der REHACARE 2022 – Interview mit Inklusions-Aktivist und Autor Raúl Krauthausen
Nach drei Jahren ohne REHACARE kehrt die internationale Fachmesse für Rehabilitation und Pflege wieder als Präsenzmesse nach Düsseldorf zurück. Vor dem Start der Messe haben wir in einem exklusiven Interview mit Bundesverdienstkreuzträger Raúl Krauthausen über Inklusion und Barrierefreiheit und die Bedeutung der REHACARE für die Inklusion in Deutschland gesprochen.
Endlich wieder persönliche Kontakte! Dass Networking ein USP von Live-Events ist, darin sind sich Messemenschen einig. Und gerade wenn es um Rehabilitation und Pflege von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen geht, ist direkter Austausch umso wichtiger. Kein Wunder also, dass die Vorfreude auf die erste REHACARE seit drei Jahren bei allen Beteiligten groß ist. Vom 14. bis 17. September 2022 kehrt die weltweit größte Fachmesse für Rehabilitation und Pflege mit allen wichtigen Unternehmen der Branche in die Hallen der Messe Düsseldorf zurück.
„Deutschland liegt in Sachen Inklusion im europaweiten Vergleich im hinteren Mittelfeld”
Menschen, die Unterstützung durch andere Menschen oder Technologien benötigen, haben ganz individuelle und spezifische Ansprüche. Jeder Betroffene benötigt daher eine persönliche Beratung und die Möglichkeit, Produkte und Dienstleistungen individuell auf sich abstimmen zu lassen. Angebote und Innovationen direkt vor Ort zu testen, das ermöglicht die REHACARE Betroffenen und Angehörigen. So hat auch hier z. B. die Digitalisierung für neue Techniken und Methoden gesorgt, die es auf der Messe kennenzulernen gilt. Ob nun auf den Ständen der Ausstellerinnen und Aussteller selbst oder in den Fachforen – die Begegnungen zwischen Menschen aus der Branche und Betroffenen mit Behinderungen stehen stets im Vordergrund.
Begegnungen sind auch das Thema, mit dem sich Raúl Krauthausen am 16. September um 13:00 Uhr auf der PRODUCTS & NEWS@REHACARE-Bühne in Halle 4 auseinandersetzen wird. Seines Erachtens nach hat sich die Situation für Menschen mit Behinderung in Deutschland verschlechtert und Begegnungen könnten dabei unterstützen, diese Entwicklung umzukehren. Im folgenden Interview erklärt er deshalb, warum wir Menschen mit Behinderungen stets auf Augenhöhe begegnen sollten.
Redaktion: Dein Einsatz gilt den Themen Inklusion und Barrierefreiheit. Wie steht es in dieser Hinsicht um Deutschland, wenn du Noten geben müsstest?
RK: Das werde ich immer wieder gefragt – im Grunde warte ich darauf, dass ich darauf nicht mehr antworten muss. Bei mir entsteht der Eindruck, dass die meisten Deutschen Inklusion als ein leidiges Thema ansehen. Sie möchten am liebsten, dass es sich erledigt und sie sich anderen Dingen zuwenden können. Aber so einfach ist es nicht. Denn je mehr man sich damit beschäftigt, desto mehr Missstände kommen ans Tageslicht. Ich sehe es ähnlich wie bei den Frauenrechten – da fragt ja auch keiner mehr danach, wann die endlich durchgesetzt sind. Und wir diskutieren jetzt mehr als 100 Jahre nach der Einführung des Wahlrechts für Frauen darüber, dass Parteien wie die CDU immer noch von Männern dominiert werden.
Wenn ich partout antworten soll, müsste ich sagen: Deutschland liegt in Sachen Inklusion im europaweiten Vergleich im hinteren Mittelfeld. Vor allem skandinavische Länder wie Schweden sind mindestens zehn Jahre weiter als wir. Da müssen zum Beispiel alle Stockwerke von neuen Gebäuden barrierefrei sein. Das hören die Deutschen aber auch nicht gern, dass sie in irgendeinem Bereich nicht auf dem Weg zum Weltmeister sind.
Wo brennt es am meisten, was müsste dringend geändert werden?
RK: Die Privatwirtschaft und Unternehmen insgesamt müssen zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Es kann nicht sein, dass wir dort das Feld immer noch Menschen ohne Behinderung überlassen – da muss sich grundsätzlich etwas ändern. Ich mag nicht mehr bei Einzelaktionen klatschen, nur weil zum Beispiel irgendein ländlicher Bahnhof einen Aufzug bekommen hat. So etwas sollte selbstverständlich sein.
Die REHACARE ermöglicht Begegnungen
Gibt es Dauerbrenner-Themen oder ändert sich nach deiner Erfahrung auch einiges – zum Guten oder Schlechten?
RK: Tja, das ist auch wieder so etwas – die Deutschen möchten in internationalen Vergleichen gut dastehen und wollen positive Beispiele hören. Dabei machen wir hierzulande aus meiner Sicht eher Rückschritte, zum Beispiel wenn man in den Bildungsbereich schaut. In den 80er Jahren, als ich zur Schule ging, habe ich Vielfalt in den Klassen als selbstverständlich empfunden – es gab zum Beispiel den zappeligen Philipp, die stille Lisa… Heute bekommen diese Kinder immer häufiger Diagnosen wie ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, d. Red.). Und die Lehrenden ziehen sich darauf zurück, dass sie sich damit nicht auskennen, weil sie dafür nicht ausgebildet wurden. Dann werden die Kinder in Förderschulen gesteckt.
Ich meine, dass nicht hinter jedem Schüler mit Behinderung eine Fachkraft stehen muss. Die Eltern wurden für den Umgang mit ihren Kindern ja auch nicht ausgebildet. Gemeinsame Bildung ist aus meiner Sicht ein Grundrecht, über das man nicht ständig diskutieren muss.
Welche Rolle spielt die REHACARE aus deiner Sicht auf dem Weg zu mehr Barrierefreiheit innerhalb der Gesellschaft?
RK: Für mich ist die REHACARE mit einer Internationalen Automobilmesse vergleichbar, auf der die Neuigkeiten im Hinblick auf Technik und Hilfsmittel vorgestellt und diskutiert werden. Dabei würde ich mir allerdings wünschen, dass bei der Entwicklung von Innovationen die Menschen, die sie nutzen sollen, mehr mit einbezogen würden. Nicht jede neue Rollstuhlgeneration ist meiner Erfahrung nach automatisch besser. Ich denke, es liegt daran, dass die Hersteller eher mit den Sanitätshäusern Kontakt haben als mit den Kunden.
Außerdem wünschen sich Menschen mit Behinderung in letzter Konsequenz nicht die neueste Konstruktion eines Rollstuhls, der Treppen steigen kann – sie möchten, dass es keine Treppen mehr gibt. Die barrierefreie Umwelt, das ist ein gesellschaftliches Thema.
Welche Erwartungen hast du an die REHACARE 2022?
RK: Ich freue mich darauf, bei einem Vortrag (16. September 2022, 13 Uhr, PRODUCTS & NEWS@REHACARE-Bühne in Halle 4, Stand H07) über das Thema „Begegnungen“ sprechen zu können. Denn ich denke, dass diese völlig unterschätzt werden. Stets heißt es: Wir sollen Barrieren durch Aufklärung senken. Auf Plakaten steht: Menschen mit Behinderung haben auch das Recht auf Arbeit, Schule, den öffentlichen Nahverkehr… übersetzt gesagt: Habt euch alle lieb. Dabei ist das doch eine Binsenweisheit, mit solchen Aussagen wird meiner Ansicht nach nichts erreicht. Man sagt doch auch nicht: Frauen haben ein Recht auf all das eben Geschilderte. Auf diese Weise bekommen Menschen mit Behinderung einen exotischen Status – völlig unangemessen.
Deshalb also hast du dir das Thema „Begegnungen“ für deinen Vortrag ausgesucht?
RK: Genau. Weil ich denke, dass man anderen die Ängste oder Unsicherheit gegenüber Menschen mit Behinderung nur durch Begegnungen mit ihnen nehmen kann – nicht durch Theorien oder Aufklärung über Plakate. In dem Moment, in dem Menschen mit Behinderung ganz selbstverständlich in Eisdielen oder Schulklassen sitzen, anderen begegnen, wären wir im Hinblick auf Inklusion einen Riesenschritt weiter.
Wir bedanken uns für das spannende Interview und freuen uns schon sehr auf den Vortrag von Raúl Krauthausen auf der REHACARE 2022. Auf was freut ihr euch denn am meisten? Seid ihr überhaupt dabei? Falls nicht, dann solltet ihr euch unbedingt hier noch Tickets sichern!
Das vollständige Interview könnt ihr auf der Website der REHACARE lesen.